Oldenburger Initiativen zur Entschleunigung und Nachhaltigkeit
Von Andreas Büttner
„Geld oder Leben“ – mit diesem Ruf haben wir als Kinder Raubüberfall gespielt. Heute kann ich Spielen, die in dieser – wenn auch kindlichen – Form Gewalt verherrlichen, nichts mehr abgewinnen. Aber ich sehe mit Schrecken, wie dieses „Spiel“ heute gerade von jungen Menschen überall gespielt wird. Es heißt dann „Kind oder Karriere“, oder „Wohnung, Auto, Technik, Urlaub oder Zeit für Freundschaften und für sich selbst“ oder, oder. Die Grauen Herren, denen Michael Ende als Zeitdieben in seinem Buch „Momo“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat, sind allerorten unterwegs und beherrschen unser Leben.
Immer mehr jüngere und ältere Menschen durchschauen das Spiel von Hast und Hetze und verweigern sich ihm. In meiner Umgebung in Oldenburg, im Nordwesten Deutschlands, sehe ich mit Freude eine Initiative nach der anderen entstehen, die einen anderen Lebensstil nicht nur propagiert sondern auch ermöglicht.
Initiativen
Studierende pachten einen brachliegenden großen Schrebergarten in der Nähe der Universität, gründen einen Verein, den sie „Wurzelwerk“ nennen, und bauen ihr eigenes Gemüse an. Sie laden Schulen, Geflüchtete und alle, die sonst Interesse haben, zum gemeinsamen Gärtnern mitten in der Stadt ein. Und nach dem Studium suchen sie sich eine halbe Stelle, damit der Lebensunterhalt gesichert ist und Zeit für sich, für Freunde und für freie Initiativen bleibt.
Sprachlernklasse bei ‚Wurzelwerk’: Gärtnern im Offenen Gemeinschaftsgarten mitten in der Stadt und ‚nebenbei’ deutsch lernen – Oberschule Alexanderstraße. Hier gibt’s einen Filmbeitrag von Werkstatt Zukunft.
Andere (manchmal sind auch die selben wieder dabei) gründen ein Repair Café mit über 40 ehrenamtlichen Reparateuren, die einmal im Monat bei einer von hunderten Bürger*innen besuchten Veranstaltung helfen, defekte Geräte, Kleidung und manches andere mehr zu reparieren: das spart Rohstoffe, Energie und natürlich auch Kosten, so dass ein genügsamer Lebensstil ganz praktisch möglich gemacht wird. Die Kooperation mit dem Oldenburgischen Staatstheater hat das Repair Café innerhalb eines Jahres zu einem kulturellen Highlight in der Stadt werden lassen. Im Herbst 2016 wird es in einer neuen Kooperation mit dem Kunst-Forum Oldenburg fortgesetzt.
Zu Besuch im Repair Café: „Reparieren statt konsumieren!“ ist das Motto im Repair Café, das es seit 2014 auch in Oldenburg gibt. Einmal im Monat stehen bis zu vierzig ehrenamtliche Reparateure bereit, dir beim Instandsetzen deiner Sachen zu helfen. Hier gibt’s einen Filmbeitrag von Werkstatt Zukunft.
Der Verein transfer e.V. gibt seit sieben Jahren den Einkaufskompass KOSTBAR unter dem Motto regional – bio – fair heraus und fördert so regionales und umweltschonendes Wirtschaften. Im Laufe der Jahre ist dadurch ein Netzwerk entstanden, das Konsument*innen verantwortliche Einkaufsentscheidungen ermöglicht und so zu einem Wandel des Lebensstils beiträgt.
Junge Kulturschaffende haben ein eigenes, regionales Festival ins Leben gerufen, das auf Ökologie und Nachhaltigkeit setzt und Freiräume für Kultur und Leben schafft. Der Name „Freifeld“ steht für die Nutzung freier Räume in der Stadt – dabei gibt es nicht nur viel Unterstützung in der Stadt, sondern manchmal auch überraschende Hindernisse, wenn etwa ein Immobilienunternehmer, der ein ehemaliges Klostergelände gekauft hat, seine Zustimmung zur Nutzung kurzfristig zurückzieht, weil er die künstlerische Aufarbeitung der Vergangenheit (Krankenmorde in der Nazizeit) verhindern will. Kunst braucht Freiheit: die Festivalmacher*innen waren konsequent und haben die Veranstaltung im letzten Jahr abgesagt – in diesem Jahr starten sie trotz der hohen Schulden, die ihnen geblieben sind, mit neuem Konzept durch und schaffen neue Freiräume in der Stadt.
Ich könnte hier viele weitere Initiativen nennen, wie die Schnippeldisko, bei der Lebensmittelretter Gemüse verarbeiten, das sonst weggeworfen wird, die Critical Mass, eine monatliche Fahrrad-Demonstration, die die Straßen für den langsamen Verkehr zurückerobert, den Verein „Rädchen für alles“, der Lastenräder gegen eine Spende verleiht, so dass selbst eine Waschmaschine innerhalb der Stadt ohne Umweltbelastung transportiert werden kann, und manche andere.
Nachhaltigkeitstipp: Lastenräder als Gemeingut. Der Oldenburger Verein „Rädchen für alle(s)“ verleiht Lastenräder auf gemeinnütziger Basis – ohne kommerzielles Interesse. Hier gibt’s einen Filmbeitrag von Werkstatt Zukunft.
Alle diese Initiativen haben das Ziel, die Lebensqualität zu verbessern und gleichzeitig den Konsum, der auf Geld basiert, auf das notwendige Maß zurückzufahren. „Leben statt Geld“ ist das Motto. Umfragen unter jungen Menschen zeigen, dass der Wertewandel fortschreitet: Immer öfter werden Zeit und Lebensqualität als Werte genannt, die Vorrang vor Geld und Karriere haben.
Neue Ansätze in den Wirtschaftswissenschaften
Dazu gibt es vielversprechende Ansätze in den Wirtschaftswissenschaften, die bislang an der Universität Oldenburg vor allem von Niko Paech vertreten worden sind. Unter der Bezeichnung „Postwachstumsökonomie“ entwickelt er die Vision einer Wirtschaft, die nicht auf Wachstum angewiesen ist, unsere natürlich Lebensgrundlage schont und Menschen in allen Teilen der Welt gleichermaßen Wohlstand zubilligt: Unser Wohlstandsmodell gehört auf den Prüfstand, weil es nur auf Kosten anderer zu verwirklichen ist.
In der Postwachstumsökonomie setzt Paech neben einer eingeschränkten Erwerbsarbeit auf Selbstversorgung, Reparieren statt Konsumieren, eine Verkürzung der Produktionsketten hin zu einer regionalen Versorgung und andere Ansprüche in Bezug auf Mobilität. „Weniger ist mehr“ – in dieser knappen Formel fasst er den Gewinn an Zeit und Lebensqualität zusammen.
Niko Paech: Postwachstumsökonomie in 20 Minuten. Niko Paech erläutert in der ersten Veranstaltung von Werkstatt Zukunft im Oldenburgischen Staatstheater sein Konzept einer Wirtschaft, die den Bedürfnissen des Menschen dient und ohne Wachstum auskommt. Hier gibt’s einen Filmbeitrag von Werkstatt Zukunft.
In der Einleitung zu seinem lesenswerten kleinen Buch „Befreiung vom Überfluss“ schreibt Paech: „Dieses Buch dient einem bescheidenen Zweck. Es soll den Abschied von einem Wohlstandsmodell erleichtern, das aufgrund seiner chronischen Wachstumsabhängigkeit unrettbar geworden ist. […] Mit dem immensen Konsum- und Mobilitätsniveau wuchs im Zuge der Globalisierung zugleich die Abhängigkeit von überregionalen Versorgungsketten und Marktdynamiken. Ohne deren komplexe, faktisch unbeherrschbare Verflechtung wäre die Wohlstandsexpansion nie zu haben gewesen…“
In diesem Zusammenhang spricht Paech von einem Kartenhaus, das immer höher und gleichzeitig immer instabiler wird: „Und das Fundament bröckelt bereits“. Das, so findet Paech, sei aber keine schlechte Nachricht, denn die „geschundene Ökosphäre“ bräuchte ohnehin eine Verschnaufpause.
Für seine Forschungsarbeiten wurde Paech mit dem Zeit Wissen-Preis ‚Mut zur Nachhaltigkeit’ (Zeit-Verlag Hamburg) ausgezeichnet. Aber Paech macht sich mit seinem Ansatz in der Wirtschaftswissenschaft nicht nur Freunde. Eine starke Lobby hat die Berufung des außerordentlichen Professors auf einen Lehrstuhl (und damit eine feste Stelle) in Oldenburg verhindert. Dafür ist jetzt an der Universität Siegen ein Masterstudiengang ‚Plurale Ökonomik’ entstanden, in dem er mitwirken wird.
Glücklicherweise bleibt Niko Paech den Oldenburger Initiativen jedoch auch in Zukunft erhalten, denn er wohnt weiterhin in Oldenburg, ist mit Rad und Bahn unterwegs und lehnt Einladungen zu wissenschaftlichen Kongressen, die mit Flugreisen verbunden wären, konsequent ab. Viele der engagierten jungen Leute in den eingangs vorgestellten Initiativen sind durch seine Schule gegangen oder von seinen Ideen beeinflusst.
Ein Netzwerk entsteht – Werkstatt Zukunft
Das ‚Forum Zukunft der Christengemeinschaft in Oldenburg’ engagiert sich seit einer Reihe von Jahren in der Klima-Allianz Oldenburg oder als verantwortlicher Veranstalter der ‚Oldenburger Zukunftstage’, die alle zwei Jahre Interessierte zu einem breiten Ideenaustausch zusammenführen. So ist ein breites Netzwerk der Zivilgesellschaft vor Ort entstanden, in dem Initiativen immer wieder gemeinsam geplant und durchgeführt werden.
Zukunft gestalten – Wie Gemeinschaft zum treibenden Faktor wird. „wir“ – miteinander statt gegeneinander, gemeinsam statt einsam: wie wollen wir in Zukunft leben? Bericht von den Oldenburger Zukunftstagen 2016 mit Verleihung des Oldenburger Zukunftspreises. Mai 2016.
Aus diesem Engagement ist Anfang 2015 auch die Initiative ‚Werkstatt Zukunft’ entstanden, die etwa einmal pro Monat zu gut besuchten Veranstaltungen zu Themen wie Nachhaltigkeit, Frieden, Alternatives Wirtschaften oder Jugendinitiativen einlädt und diese als einstündige Fernseh-Sendung für die Bürgersender der Region aufzeichnet. Die Diskussionen werden durch kurze, vorproduzierte Filmbeiträge und durch Musik, Literatur oder Performance ergänzt um auch junge Menschen anzusprechen und für die Thematik zu begeistern. Auch hier hat die Kooperation mit dem Oldenburgischen Staatstheater geholfen, Werkstatt Zukunft schnell im kulturellen Leben der Stadt zu verankern.
Generalintendant Christian Firmbach begrüßt Werkstatt Zukunft und begründet, warum Nachhaltigkeit für das Theater ein wichtiges Thema ist. Hier gibt’s den Filmbeitrag von Werkstatt Zukunft.
Kreativ – nachhaltig – solidarisch: das ist die Werkstatt Zukunft. Andreas Büttner, Pfarrer der Christengemeinschaft und einer der Initiatoren der Werkstatt Zukunft, eröffnet die neue Reihe. Hier gibt’s den Filmbeitrag von Werkstatt Zukunft.
Über eine eigene Website und über die Sozialen Medien sind die Videos und weitere Informationen von Werkstatt Zukunft unabhängig von der Sendezeit immer abrufbar. Für die kommenden Monate liegt der Schwerpunkt auf Projekten mit Kindern und Jugendlichen zu Themen wie Fairer Handel, Klimawandel oder Religiöse Vielfalt und Grundwerte. Ermöglicht wird diese Arbeit durch ein hohes ehrenamtliches Engagement von Menschen aus allen Generationen, durch Spenden und durch Projektmittel, die von unterschiedlichen Partnern zur Verfügung gestellt werden.
Der Ankündigung zu unserer ersten Veranstaltung haben wir seinerzeit das Motto vorangestellt: „Ein Grabstein für diese Zeit könnte die Inschrift tragen: Jeder wollte das Beste – für sich“ (Siegfried Lenz, 1988). Und wir haben hinzugefügt: „Es liegt an uns, dieser düsteren Vision – von Siegfried Lenz als Mahnung anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ausgesprochen – die Vision eines neuen Wirtschaftens gegenüber zu stellen, das mit den erschöpfbaren Ressourcen der Erde rechnet und allen Menschen – auch den zukünftigen Generationen – gleichermaßen einen Anteil an ihrem Reichtum zubilligt. So entsteht ein Klima der Zukunft, das von Gemeinsamkeit und Verantwortung geprägt ist und in dem Kreativität neue Lösungswege für alte Probleme ermöglicht.“
Bei Michael Ende sagt einer der Grauen Herren: „Das einzige, worauf es im Leben ankommt, ist, dass man es zu etwas bringt, dass man was wird, dass man was hat.“ Momo straft eben diese Aussage Lügen: Nichts ist für sie wichtiger als ihre Freunde. Wenn sich die Menschen den ‚Zeitsparern’ verweigern, endet ihre Macht: Die Grauen Herren lösen sich in Nichts auf.
Geld oder Leben? Natürlich brauchen wir in einem gewissen Maß Geld – es ist ein geniales Tauschmittel, das unser Leben einfacher macht. Das Streben nach immer mehr Wohlstand und Besitz aber führt uns in Abhängigkeiten, zerstört unsere Umwelt und raubt uns letztlich Lebensqualität. Zeit kann man nicht kaufen. Freundschaft auch nicht. Liebe schon gar nicht. Zum Glück gibt es all das umsonst.