Max Moor im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler: Was wäre wenn …

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Max Moor

Max Moor. Foto: Wolfgang Schmidt

Sein Charakterkopf mit den grauen, dichten Haaren bleibt haften, ebenso seine tiefe, eindringliche Stimme. Der Schauspieler und Moderator Max Moor, der früher, als er sich noch als Schweizer fühlte, «Dietr» gerufen wurde, präsentiert seit Jahren das ARD-Kulturmagazin «titel, thesen, temperamente» sowie beim RBB die Sendungen «Bauer sucht Kultur» und «Bücher und Moor». Und hat nun auch sein drittes Buch geschrieben («Als Max noch Dietr war. Geschichten aus der neutralen Zone»), das die Palette seines Lebens zwischen Medienarbeit und Bauernhof, der Schweiz und Deutschland (im Speziellen Brandenburg) umfasst. Seine Bücher sind wie seine Moderationen im besten Sinne unterhaltsam, gewürzt mit Lebenserkenntnissen, Humor und Fantasie und zeigen keine Scheu, eine engagierte Haltung zu vertreten und die Ängste eines «Hyperwessis» in der ostdeutschen Provinz zu benennen.

Doris Kleinau-Metzler | Herr Moor, Sie erzählen in Ihrem dritten Buch von einer Kindheit und Jugend in der Schweiz. Ist es Ihre Biografie?
Max Moor | Ich nenne es eine «fiktionale Biografie», denn Erlebnisse und Assoziationen meines Lebens fließen ein wie auch manche Eckdaten (so war mein Vater Versicherungsvertreter). Aber es sind allgemeine Erfahrungen, die diese Generation in der Schweiz in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts betreffen. Mein Vater vertrat das Vorausschauende, was für die Geborgenheit eines Kindes ja auch wichtig ist. Er war, wie viele seiner Generation, überzeugt, dass das Leben funktioniert wie eine planbare Aufgabe: Wenn du das und jenes richtig machst, folgt daraus, dass du auch das richtige Ergebnis erzielst und nichts schiefgehen kann. Das war aber nur begrenzt so – und auch mein Leben ist ganz anders verlaufen: Das meiste, was ich plante, ist schiefgelaufen. Aber oft merkte ich, dass das, was außerhalb meines Planes zustande kam, weil etwas schieflief, hundertmal spannender, faszinierender war (manchmal sicher auch härter), als ich es mir je hätte ausdenken können. Wenn Sonja, meine Frau, und ich heute einander anschauen und sagen: Hättest du dir vor 20 Jahren vorstellen können, dass wir jetzt auf einer Brandenburger Weide stehen und hundert Tiere um uns haben, die alle nur da sind, weil wir hier sind, die alle hier geboren wurden, auf unserem Hof? Das habe ich nie so geplant oder gedacht, aber es hat sich so ergeben. Und das ist ein Riesengeschenk (auch wenn ich mich manchmal nach Langeweile sehne …)!
Eine der ältesten Kulturleistungen der Menschen ist für mich, wie sie von Nomaden, Jägern und Sammlern zu Bauern wurden. Das heißt auch: Ohne Kühe wäre Europa nicht das Europa, das wir kennen und schätzen. Wir verdanken auch diesen Tieren, die wir domestizieren konnten, die eine Partnerschaft mit uns eingegangen sind, was wir heute sind. Die Milch gibt uns wertvolles Eiweiß, durch die Haltbarkeit des Käses ist Vorratshaltung möglich. Das ist eine gigantische Kultur­leistung! Alles, was nicht unmittelbar Natur ist, ist Kultur.

DKM | Vom Leben auf dem Lande träumt mancher. Sie haben sich darauf mit allen Konsequenzen eingelassen. Was hat zu dieser Entscheidung geführt?
MM | Das ist eine Mischung: Etwas zu wollen ist der eine Magnet, der einen zieht, der andere, der einen voranstößt, ist die Not, das «Not-Wendige», weil man sagt: So wie bisher soll es nicht weitergehen; was ich will, soll Realität werden. Für mich kommt noch hinzu, dass ich, seit ich denken kann, immer wieder denke: Das ganze Leben reicht nicht, um alles kennenzulernen (damals war’s die Schweiz für mich). Mich interessiert immer: Was wäre gewesen, wenn ich nicht zufällig der Sohn dieser Eltern in der Schweiz gewesen wäre? All die tausend Varianten, die ja in jeder Sekunde des Lebens stecken! Ich habe deshalb auch Angst, etwas Wesentliches nicht zu bemerken. Die Grundangst ist: Die Lebens­spanne ist zu kurz, um die Welt kennenzulernen! Dabei schätze ich durchaus den Augenblick, den kleinen Wassertropfen auf der Fenster­bank am Morgen, der wie ein Diamant in der Sonne schimmert – aber ich bin mir auch bewusst, was es noch alles gibt.

Max Moor

Foto: Wolfgang Schmidt

DKM | Wie kamen Sie auf die Idee, Schauspieler zu werden?
MM | Das hat sich so ergeben und entstand letztlich aus einer Art Ratlosigkeit als Siebzehnjähriger, was überhaupt aus mir werden sollte. Mit Sechzehneinhalb stand für mich nur fest: Ich will nicht länger zur Schule gehen. Mein Vater sagte zunächst: «Dann wirst du Hilfsarbeiter!» Das war für ihn etwas Schreckliches, denn sein Vater war Arbeiter in einer Fabrik und wurde dann arbeitslos. Wie schlimm das für die Familie war, hat er als kleiner Junge erlebt. Aber ich sah keinen Sinn für mich darin, weiter zur Schule zu gehen, denn ich wollte nicht studieren, sondern konnte mir eher vorstellen, Schreiner oder Bauer zu werden. Davon wurde mir massiv abgeraten, weil ich körperlich nicht kräftig genug sei.
Damals konnte man in der Schweiz kostenlos Instrumental­unterricht nehmen, finanziert durch die staatliche Schule. Meine Geigenlehrerin war überzeugt, dass ich ein großes Talent sei, und sagte meinen Eltern: Der Junge muss Musik studieren! Vormittags sollte ich Geige üben, nachmittags hatte ich einen Job in einer Buchhandlung. Aber – ich habe den ganzen Vormittag herumgelümmelt, ein bisschen auf der Gitarre herumgeklimpert usw., während meine Mutter arbeiten ging. Letztlich sah es so aus, dass ich ein Jahr lang nichts gemacht habe – was meine Eltern überhaupt nicht aushielten. Ich war schrecklich, ich wünsche niemandem so einen Sohn, wie ich einer war! Da gab es schon Konflikte … Ich muss den Eltern, die das erleben, zur Beruhigung sagen: Es ist kein Herumhängen, es ist in der Tat eine sehr wichtige Zeit der Selbst­findung für mich gewesen, mit Fragen wie: Gehöre ich dazu oder nicht? Will ich überhaupt dazugehören? Und wenn ja, wozu eigentlich? Durch Zufall ergab sich, dass ich dieses Schau­spielstudium entdeckte und dann, nachdem ich die Aufnahme­prüfung an der Musik­akademie geschafft hatte, von der Schau­spiel­akademie Zürich eine Zusage erhielt.

DKM | Ihre Frau arbeitete vor ihrem Weg zur Demeter-Bäuerin als Filmproduzentin. Sie waren im österreichischen Fernsehen präsent. Wie kamen Sie dann in die Landwirtschaft und nach Brandenburg?
MM | Wir haben beide sehr viel gearbeitet, auch das Leben in Schicki-Kneipen kennengelernt, aber irgendwann merkte ich: Ich muss irgendwoher die Kraft nehmen. Und da ich vom Ländlichen geprägt wurde, stellte ich mir einen Ort vor, wo es so still ist, dass ich eine Biene summen höre, und wo ich einfach barfuß auf die Wiese vor der Tür treten kann. Wir konnten dann ein schönes altes Bauernhaus im Züricher Oberland mieten, wo ich auch wieder Hunde haben konnte. Laufenten kamen dazu, und eines Tages stand der Mann mit dem Pferd da, das keinen Platz mehr hatte, dann kam der Esel, dann der zweite, die bekamen Junge und so weiter. Wir hatten nun einfach all die Tiere, und damit kann man ja nicht einfach in die Stadt ziehen. Da ich aus beruflichen Gründen nach Berlin wollte, suchten meine Frau und ich entsprechend im Um­feld, also in Brandenburg, einen Hof.

DKM | In Ihrem Buch schildern Sie Schweizer Besonderheiten, die für Deutsche manchmal nachvollziehbar sind, während anderes fremd bleibt.
MM | Ich glaube, das große Missverständnis der Deutschen ist, dass sie denken: Die Schweiz ist auch so eine Art kleines Deutschland. Das stimmt nicht, so wenig und so viel wie es mit Italien und Frankreich zu vergleichen ist. Es ist wirklich ein anderes Land. Beispiels­weise ist das Schweizerdeutsch nicht einfach ein Dialekt wie das Bayrische, sondern eine andere Sprache, die zudem sehr anarchistisch und frei ist, weil sie ja tatsächlich eine Gebrauchssprache ist, die sich über die Jahrzehnte, Regionen und Generationen stark verändert. Das von den Schweizern so genannte «Schriftdeutsch» ist die offizielle, geschriebene Sprache, klingt aber trotzdem anders.
Aus der Ferne würde ich den Schweizern einfach gern zurufen: Habt doch weniger Angst, habt weniger Komplexe und erfindet nicht immer neue seltsame Mythen – sondern nehmt die Schweiz als das, was sie war, das ist spannend genug! Die Schweiz ist ein Flickenteppich, der sich unter Druck von außen zu einem Staat zusammengerauft hat. Die Schweiz könnte ein Vorbild für Europa sein, mit ihren verschiedenen Sprachen, Mentalitäten und Lebens­bedingungen. Die Angst ist in der Schweiz sehr präsent, die Überfremdungsangst oder die Angst: Das macht man nicht, denn was würde der andere sonst denken? Bevor man sich streitet, werden die Fenster geschlossen, damit der Nachbar es nicht hört, statt einfach mal herzhaft loszubrüllen – und dann ist es auch wieder gut.

DKM | Wie sind Ihre Erfahrungen in Brandenburg?
MM | Das Leben in Brandenburg in meinem Dorf habe ich letztlich als befreiend empfunden. Dort tue ich einfach, was ich für richtig halte, kann mich aber darauf verlassen, wenn es jemand daneben findet, dass er es mir sagen wird. Und dann kann man darüber reden. Dass das hier so ist, wusste ich vorher nicht, sondern hatte auch all diese Wessi-Klischees. Doch diese unglaublich weite Landschaft prägt die Menschen hier. Klar, die Brandenburger sind nicht die aalglatten Smalltalker, aber offene, direkte Menschen. Die Geradlinigkeit zeugt von einem gewissen Selbstbewusstsein, was wohl auch damit zu­sammenhängt, dass die älteren Menschen so viele Systeme erlebt haben: manche als Kind noch die Nazis, dann die Russen, später lange die DDR, dann die Wende und nun den Kapitalismus und seine Krise. Sie sagen: «Das haben wir alles überstanden», was für Gelassenheit und Souveränität steht. Das drückt auch der Spruch aus, der über dem Konsum-Laden in unserem Dorf steht: «Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht.» Ja, brauchen wir denn wirklich 40 Sorten Haarspray und über 200 Sorten Joghurt?

Dieses Interview stammt aus a tempo.
Fotos von Wolfgang Schmidt.

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